Der Atlantik vor Mauretanien gehört zu den reichsten Fischgründen der Welt, der Export von Fisch zählt zu den wichtigsten Einkommensquellen des Landes, der Fischereisektor ist der wichtigste Arbeitgeber und Fisch stellt das Grundnahrungsmittel der Bevölkerung dar. Doch die Bestände schrumpfen, es droht die unwiderrufliche Überfischung durch die boomende Fischmehlindustrie. Auch Beifang und Kleinfische, die nicht für die Konsumenten in Europa taugen und traditionell zur Versorgung der lokalen Bevölkerung dienten, werden zu Fischmehl verarbeitet. Früher konnten die Fischer zumindest ihre Familien versorgen, heute reicht der Fang oft nicht mehr zum Überleben. Die Fischer in Nouadhibou und Nouakchott kämpfen täglich gegen drohende Arbeitslosigkeit, die weithin grassierende Korruption und die immer schwierigeren und gefährlicheren Arbeitsbedingungen. Die großen Trawler der chinesischen Fischmehlfabriken haben einen enormen Bedarf an Fisch und setzen sich über alle Regeln hinweg. Längst ist das auch eine der wichtigsten Fluchtursachen in einem unwirtlichen Land, das außer den Eisenerzvorkommen in Zouerate fast vollständig vom Fischfang und der Fischindustrie lebt.
Die chinesische Gemeinde in Nouadhibou führt ein absurd trauriges und isoliertes Leben. Die Arbeiter leben weitgehend abgeschottet. Außerhalb der Fabriken sieht man sie nur beim Einkaufen in einem der chinesischen Supermärkte oder in einem der Restaurants, die vor allem als Bordelle funktionieren.
Das größte Problem ist jedoch die Verschmutzung des Meeres durch die Fischmehlfabriken. Die Rückstände der Produktion werden teilweise direkt zurück ins Meer gepumpt, das Wasser ist grau, aus den Schornsteinen kommt schwarzer Dieselqualm. Der Gestank im Umkreis der Fabriken ist unerträglich, obwohl in den Tagen an denen wir vor Ort sind, relativ wenig produziert wird, da die Fänge sehr gering sind. Wenn die Kapazitäten ausgelastet sind und in jeder der Fabriken hunderte von Tonnen Fisch pro Tag verarbeitet werden, kann man in einigen Teilen der Stadt nicht aus dem Haus gehen oder das Fenster öffnen. Viele Menschen leiden an chronischen Atemwegserkrankungen.
In der Bibel bringen drei weise Könige aus dem Orient drei Geschenke zur Krippe in Bethlehem, wo Jesus Christus geboren wurde: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Weihrauch und Myrrhe, so glaubt man, waren genau so wertvoll und wurden mit Gold aufgewogen. Weihrauch oder Olibanum ist ein aromatisches Harz, das seit Jahrtausenden für kultische Handlungen in verschiedenen Religionen verwendet wird. Der Bedarf für Weihrauch, Ölessenzen, Parfüms und Naturarzneimittel ist ein wachsender Markt, die Nachfrage steigt ständig. Das begehrte Harz stammt von Bäumen der Gattung Boswellia, die vor allem am Horn von Afrika, auf der Arabischen Halbinsel und in Teilen Indiens endemisch sind. In der Republik Somaliland, die de facto unabhängig ist, aber international nicht anerkannt ist, sind Weihrauch und Myrrhe die wichtigsten Exportgüter – aber die Bestände stehen unter Druck: die steigende Nachfrage und nicht nachhaltige Erntetechniken bedrohen die Bestände der Weihrauchbäume, besonders der endemischen Art Boswellia frereana, deren Harz als das teuerste und hochwertigste gilt. Für die Menschen in Somaliland ist die Ernte und der Verkauf des Weihrauchs die einzige Einkommensquelle. Um das Harz zu gewinnen, werden die Bäume angeritzt, der Saft, der aus der Wunde sickert, um diese zu schließen, trocknet zu einem Harzschorf, der nach einer gewissen Zeit abgeschabt wird. In den Sortierstuben von Erigavo, im östlichen Bergland Somalilands, wird die Ernte gesäubert und nach Qualitätsstufen sortiert, bevor sie über Aufkäufer und Großhändler in den Export gelangt. Doch mit steigender Nachfrage bringen Übernutzung und die Verschlechterung des Ökosystems die wirtschaftliche Grundlage für die Bevölkerung an den Rand des Zusammenbruchs. Für die Menschen in Somaliland bedeutet der unsichere Status und die Isolierung des Landes zudem, dass das Weihrauchharz zumeist im Rohzustand ausgeführt wird, da Investoren nicht willig sind, im Land in Destillerien zu investieren um vor Ort Mehrwert zu schaffen. Und ohne dass neue Bäume gepflanzt werden die Baumbestände innerhalb der nächsten Jahrzehnte verschwunden sein.
Die Bedeutung des Permafrosts für das Weltklima ist bekannt und wird doch noch immer unterschätzt. In Tscherski, einer ehemaligen Goldgräberstadt an den Ufern des Kolyma im Norden Jakutiens trotzen die Menschen den Folgen des Auftauens des schützenden Eispanzers unter ihren Füßen. Dabei bildet sich der sogenannte Thermokarst, Bodenabsenkungen und Bodeneinbrüche, die zu ausgedehnten Mooren werden und sich mit Wasser füllen. Vor Ort forschte der Geophysiker Sergej Afanassjewitsch Zimov jahrelang über das Abschmelzen des Dauerfrosts und entwickelte seine Theorien, wie diese Entwicklung eventuell aufgehalten werden könnte. Sein groß angelegtes Experiment eines Pleistozän-Parks zur Wiederherstellung einer Urlandschaft, die nach der Megaherbivoren-Hypothese typisch für das Gebiet war, aber durch das Aussterben der großen Pflanzenfressern verloren gegangen ist soll zur Verminderung oder zumindest Verzögerung der globalen Erderwärmung beitragen. Permafrostböden binden weltweit rund 1,7 Billionen Tonnen Kohlenstoff, doppelt so viel wie er in der Form von Kohlendioxid in der Atmosphäre vorkommt. Als Zimov die ersten Bodenproben regiert im fernen Kreml noch Leonid Breschnew. Damals war der Permafrost noch durchschnittlich minus 7°C kalt. Inzwischen zeigen die Messstellen rund um Tscherski -4°C, an manchen Stellen nur noch -1,5°C. Die Berechnungen decken sich mit anderen internationalen Forschungsergebnissen. Nach den Daten des International Panel on Climate Change erwärmten sich etwa die Permafrostböden in Alaska von den 1980er Jahren bis in die Mitte der 2000er Jahre um 2 bis °C. Noch bedrohlicher: in der Arktis sollen die Temperaturen doppelt so stark steigen wie im globalen Durchschnitt. Die Auswirkungen dieser Entwicklung werden katastrophal sein, in und um die Stadt Tscherski kann man sie beobachten. Die Stadt, 1931 für die Exploration der Gegend und den Abbau von Rohstoffen gegründet, gleicht heute einer Geisterstadt. Von damals 11.000 Bewohnern sind nur etwas über 2.800 geblieben, die einstigen Goldminen sind geschlossen. Blinde Fenster, bröckelnde Fassaden und schiefe Häuser. Gebäude werden hier auf Pfählen gebaut, die mehrere Meter weit in den Böden gerammt werden. So haben die Häuser auch im Sommer Halt, wenn die oberste Schicht des Permafrosts auftaut. Doch längst kriecht die Wärme tiefer, die Pfähle verlieren ihren Halt, in den Mauern bilden sich Risse, die Bauten versinken. Die Stadt rutscht auf dem Gletscher Richtung Abgrund.
(Reportage erschienen in Terra Mater Magazin Nov/Dez 2019, Text von Simone Brunner)
Der Wakhan-Walkhan-Korridor im Nordosten Afghanistans ist auf drei Seiten umschlossen von leidenschaftslosem Gebirge und den undurchlässigen Grenzen zu Tadschikistan, China und Pakistan. Am Ausgang des Tales liegt die von den Taliban kontrollierte Stadt Ishkashim. Am Fuß von sprödem Fels und ewigem Eis haben nomadische kirgisische Hirten und beharrliche Wakhi-Bauern trotz allen Widrigkeiten nicht verlernt zu überleben.
Das bevölkerungsreichste Land der Welt kämpft mit den Folgen seiner brachialen Industrialisierungspolitik. Die Modernisierungsgewinner reiben sich die Hände, die Verlierer bleiben auf der Strecke. Bilder einer Reise durch die Mitte des Landes, von der Metropolregion Chongqing Richtung Westen, entlang des Yangtze nach Hunan, ein Reisetagebuch über das Leben zwischen Moderne und Tradition.
Poppy wurde von ihren Eltern weggebracht, bevor sie 13 Jahre alt war. Ein Schicksal, wie es immer wieder in den armseligen Hütten der des Bordells auf der Insel Banishanta im südlichen Bangladesch erzählt wird. Man erzählte ihr, dass sie in einer Textilfabrik arbeiten wurde, aber sie fand sich eingesperrt in einem illegalen Bordell in Chittagong wieder, wo sie in einem Raum mit zwölf anderen unglücklichen Mädchen hausen musste. Als sie 18 Jahre alt geworden lief sie weg, mit etwas gespartem Geld. Ihre Eltern wollten sie nicht wiederzusehen. Der nächste verzweifelte Ort war dann die Insel Banishanta. Hier sitzt sie jetzt täglich vor einer kleinen Bambushütte, wo sie ihre Kunden empfängt und, starrt auf die schlammigen Fluten des mächtigen Poshur, angeschwollen in dieser Zeit des Jahres durch Regen und Schmelzwasser aus den fernen Bergen. Ihr Unterarm ist mit Narben übersät, sie schneidet sich selbst mit einer Rasierklinge, wenn sie sich traurig und allein fühlt. Banishanta, trotz des lokal verbreiteten Erzählung, dass obwohl es ein Bordell ist, die Mädchen hier Freundinnen, irgendeine Art von familiären Bindungen oder etwas Unterstützung finden können und dass es hier besser wдre als anderswo, ist es am Ende genau wie jeder andere Ort, an dem Frauen und Mädchen gezwungen werden, sich zu verkaufen. Aggressives Verhalten, Gewalt und Belästigung seitens der Behörden sind auch in Banishanta tägliche Routine. Die unvorhersehbaren Überschwemmungen sind eine ständige Bedrohung. Während des Monsuns trotzt die Insel den Starkregen, Wirbelstürmen und Flutwellen; und in der Trockenzeit gibt es paradoxerweise nicht genügend Trinkwasser, was vor allem der jahrzehntelangen Umweltverschmutzung und dem hohen Salzgehalt der Böden geschuldet ist. Aber der kleine Streifen Land von Banishanta ist einer der wenigen Orte in Bangladesch, wo Prostitution legal ist. Als der nahe gelegene Seehafen von Mongla um 1950 eröffnete, schien es der ideale Ort um das große Geld mit käuflicher Liebe zu machen. Während der Hochphase, arbeiteten und lebten hier mehr als 1000 Frauen und Mädchen, heute kämpfen noch ungefähr 100 Frauen jeden Tag gegen Ausgrenzung, Armut und die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels, der ihnen buchstäblich den Boden unter den Füßen streitig macht.
Der Grenzübergang Idomeni zwischen Griechenland und Mazedonien war bis vor kurzem ein weitgehend unbekannter Ort mit ungefähr 300 Einwohnern, die von Land- und Viehwirtschaft leben. Weitgehend unbekannt, bis die mazedonische Regierung beschloss, die Grenze zum Nachbarland abzuriegeln. In den letzten Monaten belegen die Mitarbeiter verschiedener UN-Organisationen, der Ärzte ohne Grenzen und anderer Hilfsorganisationen und Journalisten die Hotels, Pensionen und Privatzimmer in Idomeni, den umliegenden Dörfern und Kleinstädten. In der Provinzstadt Polikastro herrscht reges Treiben, die Cafés und Restaurants sind voll. Und alle sind hier wegen der neuesten Schande Europas: dem sogenannten Flüchtlingslager von Idomeni.
Auf einer Wiese und entlang der griechisch-mazedonischen Bahnverbindung leben seit vielen Wochen mehr als zehntausend Flüchtlinge, die hauptsächlich aus Syrien, dem Irak und Afghanistan stammen. Sie sind hier gestrandet, doch ihre Hoffnung auf eine Weiterreise nach Nordeuropa fand hier ein Ende, vor Stacheldrahtzaun, vor Grenzpolizei, gepanzerten Fahrzeugen und Tränengas. Was die Menschen hier, im Gegensatz zu Beobachtern und Helfern, die nach Tagen oder Wochen wieder in ihre Häuser und zu ihren Familien zurückkehren, am leben erhält, ist einzig und allein die vage Hoffnung, die Grenze würde trotz aller widersprüchlichen Informationen doch wieder geöffnet.
Elend, Dreck, ständige Nässe, Kälte und der Mangel an Essen und Schlaf bestimmen das tägliche Leben. In den Tagen und Wochen nach der endgültigen Schließung der Grenze hat sich das Lager örtlich organisiert. Die letzten Abgewiesen harren über Tage teilweise unter freiem Himmel in unmittelbarer Nähe des Grenzzauns aus. Sie trotzen dem Dauerregen und der nächtlichen Kälte, unter den Blicken der griechischen Grenzpolizei.
Das Lager von Idomeni hat in einigen Wochen eine eigene Dynamik und eine eigene Topografie herausgebildet. Die Topografie der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit, der Entrechtung und der Entmenschlichung, die Topografie des Lagers.
Hunderttausende von Rohingya sind vor der Gewalt in Myanmar im August 2017 ins benachbarte Bangladesch geflohen. Die meisten leben seitdem in den inzwischen unüberschaubaren und scheinbar sich endlos hinziehenden Lagern von Kutupalong unter untragbaren Bedingungen. Seit September 2017 wurden in den Lagern über 16.000 Kinder geboren. Sie wachsen ohne Aussicht auf ein besseres Leben und ohne jegliche Zukunftsperspektive auf, die Geflüchteten sind an das Lager gebunden, dürfen Kutupalong nicht verlassen. Sie kennen nur Hunger, Durst, Mangel und Angst.
Im äußersten Westen der Mongolei, im Altai-Gebirge, gehen kasachische Nomaden wie Spam Bashakhan und die Männer seiner Sippe mit Steinadlern auf die Jagd. Als Küken kommen die Raubvögel zu den Menschen und leben mit ihnen im Kreis der Familie. So lange, bis sie ihre Freiheit wiedererlangen. Die Geschichte von Spam Bashakhan ist die Geschichte einer Leidenschaft, die das ganze Leben bestimmt.
Nachdem die eisigen Temperaturen zurückgingen, schien das Leben auf dem Areal zwischen den baufälligen Fabrikhallen am Hauptbahnhof in Belgrad zurückzukehren. Die zeitweise über 3000 Geflüchteten, die meisten aus Afghanistan und Pakistan, spielten wieder jeden Tag Kricket auf dem brüchigen Beton zwischen den Verladerampen und auf der Brache vor der Baustelle, auf der das umstrittene Milliardenprojekt der „Belgrade Waterfront“ entsteht, der das Areal in den nächsten Monaten weichen soll. Die baufälligen Industriehallen dienten diesen Menschen seit über zwei Jahren als Unterschlupf, unter prekären Bedingungen, sie litten an Hunger und Kälte – und verzweifelten vor allem an ihren gescheiterten Hoffnung über die Balkan-Route nach Westeuropa zu gelangen. Belgrad war einer der wichtigsten Knotenpunkte auf dieser Fluchtroute, mehr als eine Million Flüchtlinge versuchten von hier seit 2015 zu und über die Grenzen von Ungarn, Kroatien oder Rumänien zu gelangen. Nachdem die Balkanstaaten ihre Grenzen im März 2016 offiziell geschlossen hatten, gelangten immer noch Tausende über die Grenzen von Bulgarien und Mazedonien nach Serbien, von wo es kein Weiterkommen mehr gab. Von den mehr als 10.000 Geflüchteten, die sich Anfang 2017 in Serbien befinden, lebten zeitweise mehr als 1500 in den Ruinen der Lagerhäuser am Belgrader Hauptbahnhof. Für viele ist das Risiko, von dort abgeschoben zu werden geringer als in einer der offiziellen staatlichen Einrichtungen. Die Hoffnung, nach Kroatien oder Ungarn zu gelangen bleibt trotz der stark überwachten Grenzen, die meisten der jungen Männer haben bereits mehrere Versuche hinter sich, die Grenzzäune zu überwinden, oft wurden sie Opfer gewalttätiger Übergriffe der Grenzbeamten, wurden geschlagen, man hetzte Hunde auf sie, beschoss sie mit Tränengasgranaten und nahm ihnen oft den Rest ihrer Habseligkeiten ab. Doing the game, wie die gefährlichen nächtlichen Versuche genannt werden, bleibt die einzige Perspektive. Tagsüber stehen sie in kleinen Gruppen vor den alten Hallen mit ihren undichten Dächern und zerbrochenen Fensterscheiben. Ins Innere dringt nur wenig Licht, zu harten Strahlen gebündelt, die an einzelnen Punkten die Schlaflager erkennen lassen. Im Dunkel glimmen Feuer, in denen Müll und Eisenbahnschienen verheizt werden, die toxische Dämpfe absondern, der Rauch ist beißend und macht das Atmen schon nach wenigen Minuten unerträglich. Leise Stimmen, ab und zu bewegt sich ein Schatten durch die Rauchschwaden, die schwach züngelnden Flammen lassen die Gesichter der Männer, die um die Feuerstellen sitzen im warmen Licht schimmern.
Der Krieg in der Ostukraine geht in inzwischen in sein viertes Jahr. Seit 2014 kämpfen Regierungstruppen gegen Separatisten in den selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk, eine Lösung des Konflikts ist in weite Ferne gerückt, bis jetzt haben die immer noch andauernden Kämpfe im Donbas mehr als 10.000 Menschenleben gekostet. Zur Zeit streitet man über eine UN-Resolution zur Entsendung von Friedenstruppen, die vor allem die Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) schützen soll. Die OSZE überwacht die Einhaltung des immer wieder gebrochenen Waffenstillstandsabkommen von Minsk aus dem Februar 2015. Immer wieder werden Verstöße registriert, Schusswechsel entlang der Frontlinie und Mörserbeschuss sind Teil des Alltages geworden. Vor allem Kinder und junge Menschen leiden, für sie ist der Krieg zum ständigen Begleiter geworden, eine neue, willkürliche Grenze trennt Familien, Freunde, Bindungen. Sie wissen, wo Minenfelder zu meiden sind, haben ihre Nächte in improvisierten Luftschutzkellern verbracht; sie können verschiedene Munitionstypen am Klang unterscheiden und wissen, wie Artilleriefeuer klingt und wie nah oder fern die Einschläge niedergehen. Viele haben geliebte Menschen verloren oder sind durch schwere und schwerste Verletzungen für das ganze Leben gezeichnet. Ihre Kindheit und Jugend ist geprägt von Tod, Gewalt, Trauer und Einsamkeit. Die erste Kriegsgeneration im Europa des 21. Jahrhunderts.
Nach den Zwischenfällen und der Beschlagnahmung ukrainischer Schiffe durch russische Seestreitkräfte in der Straße von Kertsch im Asowschen Meer in diesen Tagen im späten November 2018 wird klar, wie schnell es im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu einer erneuten Eskalation kommen kann. Seit Mai 2018 verbindet eine Brücke das russische Festland mit der illegal annektierten Halbinsel Krim und bekräftigt Russlands Machtanspruch im Schwarzen Meer. Was macht die Brücke mit den Menschen vor Ort und was bleibt konkret von all den politischen Versprechungen und Hoffnungen? Nicht nur Stahl und Beton tragen die Konstruktion, es ist vor allem ein lange gehegtes und immer wieder vereiteltes historisches Versprechen, das endlich wahr geworden ist und für die Einen eine Art Lebenslinie nach Russland bedeutet, weckt sie bei den Gegnern Ängste und Resignation über die Zementierung eines unannehmbaren Zustandes.
Am 15. Dezember 2000, um 13 Uhr und 17 Minuten, wird der letzte Reaktorblock des Atomkraftwerks Tschernobyl abgeschaltet. Die Arbeiter, die anwesend sind, legen Blumen nieder, weinen.
Jewgeni Jaschin weint noch heute, wenn er sich daran erinnert. Nicht wegen den monatelangen Klinikaufenthalten nach dem Unfall von 1986, auch nicht wegen den schweren Folgen der Strahlenkrankheit, an denen er noch heute leidet. Er ist traurig, dass der Block endgültig vom Netz genommen wurde, in Tschernobyl keine Energie mehr produziert wird. Die Reaktorkatastrophe ist die größte Umweltkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Die durch die Explosion freigesetzte radioaktive Strahlung verseuchte große Teile des Kontinents und hatte schreckliche Auswirkungen, vor allem für die Menschen die in unmittelbarer Nähe gelebt hatten. Noch heute sind die Folgen sichtbar, wie in einem Heim für Kinder und junge Erwachsene mit körperlichen Missbildungen und geistiger Behinderung schmerzlich sichtbar wird.
Jeden Morgen fahren von hier über 4000 Menschen in die Zone, immer noch arbeitet man an der Beseitigung der Folgen der Katastrophe. Trotzdem haben viele ihre Arbeit verloren, viele Familien haben Slavutych bereits verlassen. Offiziell leben ca. 25.000 Menschen in der Stadt, doch sie scheint verwaist. Neuerdings kommen allerdings viele Japaner in die Stadt, die Zone um Tschernobyl „ist für sie jetzt wie eine Zeitmaschine, für Fukushima ist Tschernobyl ein Blick in die eigene Zukunft“.