Die Ukraine steht am Scheideweg, nicht zum ersten Mal in der tragischen und unglücklichen Geschichte dieses Landes. Seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 stehen der Staat und die Menschen der Ukraine vor großen Herausforderungen und Umwälzungen. Im November 2013 kam es zu Protesten auf dem Maidan in der Hauptstadt Kiew, als der damalige Präsident Viktor Janukowitsch das in Aussicht gestellte Assoziierungsabkommen mit der EU zurücknahm und eine erneute Annäherung an Russland als Partner ankündigte. Im Februar 2014 wurde versucht, die Protestbewegung gewalttätig niederzuschlagen, es gab über 100 Tote. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und der militärische Konflikt im Osten des Landes stellen das Land vor eine schwere Zerreißprobe.
Seit 2014 kamen im Krieg im Donbass mehr als 10.000 Menschen ums Leben, Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Am 24. Februar 2022 erfolgte schließlich der russische Überfall auf die Ukraine. Seitdem herrscht Krieg. Das ursprüngliche Kriegsziel Russlands, die Einnahme der Hauptstadt Kiew und ein schneller Regimewechsel, musste nach heftigem Widerstand aufgegeben werden um sich auf die Offensive in den östlichen Teilen der Ukraine zu konzentrieren. Im Zuge der Rückeroberung von Dörfern und Städten wurden Spuren systematischer Massaker und schrecklicher Kriegsverbrechen entdeckt. Seit Anfang September 2022 erzielten ukrainische Truppen bei Gegenoffensiven Erfolge und konnte die Besatzer aus dem Großraum Charkiw zurückdrängen. Russland reagierte mit einer Teilmobilmachung, der völkerrechtlichen Annexion der Süd- und Ostukraine und der systematischen Bombardierung der ukrainischen Infrastruktur.
Mehrere tausend Menschen haben am 17. Mai 2021 in Ceuta die europäische Außengrenze in Nordafrika überquert. Aus Marokko kommend schwimmen oder gehen sie den Grenzzaun entlang, der an beiden Enden des 19 Quadratkilometer großen Ceuta ins Meer ragt. In Ceuta sind sie zwar immer noch auf dem afrikanischen Kontinent, aber auf europäischem Boden. Eine Reise von ein paar Minuten, die alles bedeutet. Am nächsten Tag sind es nach Angaben der spanischen Regierung insgesamt 8.000 Menschen, die es geschafft haben, darunter Familien und schätzungsweise 1.500 Minderjährige.
Bis jetzt habe ich als Fotograf noch nie in einem solchen Format gearbeitet, das man fast als Tagebuch bezeichnen könnte. Aber nach langer Überlegung ist bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass das vielleicht die adäquate Art und Weise ist, die Bedrohung und das Leben mit Covid-19 zu dokumentieren und zu verarbeiten. Durch meine Arbeit als Fotograf musste ich mich in manchen Situationen mit Gefahr oder Bedrohung auseinandersetzen, aber dieses Mal ist es anders, diffuser. Diese Gefahr ist unsichtbar, überall und nirgends, grenzenlos. Es gab keine Klarheit, wie und welche Maßnahmen effektiv Schutz bieten, keine Protokolle oder Automatismen, die selbstverständlich abgespielt wurden. In den ersten Tagen der Ausgangsbeschränkungen spürte ich die Angst in meiner Familie, das Bedürfnis nach Information. Mein Vater hörte aufmerksam Nachrichten im Radio und berichtete uns über neue Maßnahmen. An unserer Gartentür hing eines Morgens eine selbstgenähte Atemschutzmaske, die mir eine Nachbarin gemacht hatte. Die Straßen waren leerer, der nahe Grenzübergang nach Österreich geschlossen. Das tägliche Leben verändert sich, Corona ist im Leben präsent, jeden Tag, andauernd – und der Umgang mit dem Virus hinterlässt Spuren.
In wenigen Tagen hat sich unser Leben verändert. Wir verbringen fast den ganzen Tag zu Hause. Ich lebe in einem Haus mit meiner Frau, meinen zwei Töchtern und meinen Eltern. Das Einkaufen erledigen wir in wenigen Gängen, kochen und essen immer zusammen. Meine ältere Tochter vermisst ihre Freunde, die sich nicht mehr fast täglich im Kindergarten sieht oder besuchen kann. Eines Morgens will sie eine Landkarte zeichnen, mit den Orten, an die wir gehen dürfen. Der Wald hinter unserem Haus gehört uns in diesen Tagen fast allein. Wie viele habe ich mich gefragt, wie meine Arbeit als Fotograf in dieser Zeit von Nutzen sein könnte. Als die Tage vergingen habe ich gesehen, dass dieses Projekt nicht nur eine Beschäftigungstherapie ist, sondern in gewisser Weise zeigen kann, wie unsere Gesellschaft mit Krisen umgeht, sich adaptiert und vielleicht sogar ändern könnte. Obwohl wir selbst glückliche Tage verbracht haben, verfolgten wir mit großer Traurigkeit die Lage in Italien und vor allem in Spanien, wo die Familie meiner Frau lebt. Und auch hier sind es zunächst die am meisten schutzbedürftigen Menschen, die der Bedrohung am stärksten ausgesetzt sind und im Falle einer Erkrankung mit schlimmen Folgen rechnen müssen.
Irgendwie hat man das Gefühl, dass man sich unbewusst ziemlich schnell an drastische Veränderungen gewöhnt. Die leeren Straßen, die geschlossenen Läden, die abgeriegelten Kirchen… Auch meine Mutter sucht Halt im Glauben, betet täglich. Die Karwoche steht vor der Tür, fast unmöglich, nicht an den Tod zu denken und welche Folgen diese Krise haben könnte. Ich habe viele Verwandte in Spanien, und die Situation dort ist einfach unerträglich wegen der schieren Zahl von Opfern, wie ich immer wieder aus persönlichen Geschichten höre. Die Menschen sterben in der Regel allein in den Altenheimen, ohne die Möglichkeit, dass ihre Lieben Abschied nehmen können.
Die Menschen werden wegen der Corona-Epidemie weitgehend in ihre Häuser verbannt, viele Geschäfte sind geschlossen, und einige Unternehmen steuern auf den Konkurs zu. Viele stellen sich bereits die Frage: Wie lange muss das Land im Notbetrieb bleiben? Wann macht es Sinn, über Lockerung nachzudenken? Die Stimmung ist ambivalent, auf der einen Seite scheint viel weiter zu gehen, auf der anderen Seite scheint das Schlimmste nicht vorbei zu sein, wenn man sich die Entwicklungen in Frankreich oder Großbritannien anschaut, wo die Zahlen stark ansteigen... Die Welt scheint sich wirklich in einem kritischen Zustand zu befinden. Das Corona-Virus breitet sich rasch in den verschiedenen Ländern aus, mit einem Ausmaß und einer Schwere, die seit der verheerenden Spanischen Grippe 1918 nicht mehr zu beobachten war. Wenn keine koordinierten globalen Maßnahmen ergriffen werden, um sie einzudämmen, wird die Ansteckung bald auch zu einer wirtschaftlichen und finanziellen werden. Die Frage, die ich mir auch stelle, ist, ob es ein Umdenken geben wird, wenn es vorbei ist…
Als ich das Krankenhaus in Agatharied besuche, ist die Lage dort in diesem Moment zwar entspannt, eine Woche vorher waren aber schon einmal fast die intensivmedizinischen Kapazitäten ausgeschöpft. Auf der neu eingerichteten Civid-Station und auf der Intensivstation sehe ich zum ersten Mal Menschen, die sich in Folge einer Corona-Infektion in kritischem Zustand befinden. Das ganze Krankenhaus wurde praktisch in zwei Zonen unterteilt, Neuaufnahmen mit Verdacht auf eine Covid-Erkrankung werden am Eingang oder in der Notaufnahme getestet. Zum Zeitpunkt meines Besuchs mussten nur zwei Patienten mit Coronavirus auf der Intensivstation beatmet werden. Die Ärzte rechneten aber bereits mit einem Wiederanstieg der Fallzahlen, wenn die Beschränkungen gelockert werden. Die Ärzte und die Pfleger hier setzen sich jeden Tag aufs Neue der Gefahr einer Infektion aus, Ihnen gebührt großer Respekt, sie leisten ein enormes Arbeitspensum. Ein Patient, der mich in seinem Zimmer empfängt, wurde gemeinsam mit seiner Frau im Krankenhaus Agatharied eingeliefert. Seine Frau ist verstorben, er befand sich auf dem Weg der Besserung, allerdings unter starken Schmerzen. Sein einziger Wunsch nach seinem großen Verlust, das wiederholte er mehrmals, sei wieder einmal eine Nacht richtig durchschlafen zu können.
In den letzten Wochen nahm der Protest gegen die Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens stark an Fahrt auf Tausende Menschen demonstrieren an Samstagen in München und in anderen Städten in Deutschland, oft unter Missachtung der Abstandsregeln. So wichtig das Recht auf Protest und Demonstrationen in einer demokratischen Gesellschaft sind, machen diese Veranstaltungen einfach Angst. Ich trage meine Maske vor allem um andere zu schützen, dort werde ich ausgelacht und aufgefordert, die Maske doch abzunehmen und endlich zu begreifen, dass alles nur eine große Verschwörung ist. Hier machen die Teilnehmer und auch viele die einfach an der Absperrung stehen bleiben, gemeinsame Sache mit Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretikern, ein schmaler Grat zwischen dem ursprünglichen Anliegen, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in Frage zu stellen und der Leugnung einer Pandemie, die hunderttausenden von Menschen bereits das Leben gekostet hat. Grundrechte wurden in Deutschland eingeschränkt, ja, das deckt auch die Verfassung. Darüber kann diskutiert werden, aber bei einer Demonstration geht es nicht nur um einen selbst sondern auch darum, wie weit man sich von dem gefährlichen Schwachsinn, der mit Vernunft oder Realität nichts mehr zu tun hat, vereinnahmen lässt.
Im Osten der griechischen Insel Lesbos liegt das kleine Dorf Moria. Nur ein paar hundert Meter davon entfernt, liegt das Areal, das den Namen des Dorfes in der ganzen Welt bekannt gemacht hat: Camp Moria, das zentrale Aufnahmelager der Insel für Geflüchtete, die hier das Meer überqueren und wo derzeit mehr als 20.000 Menschen in kleine Zelten, unter Planen, provisorischen Bretterbuden oder Wohncontainern auf engstem Raum zusammenleben. Die Lebensumstände sind verheerend, menschenunwürdig und die Lage verschlechtert sich ständig. Viele der Bewohner und Bewohnerinnen sitzen seit Jahren in Moria fest, die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan und aus Syrien, aus von Krieg und Terror heimgesuchten Gebieten.
Sie haben eine gefährliche, lange Reise hinter sich, haben ihre Existenz aufgegeben und alles zurück gelassen, um Asyl zu finden, stecken aber jetzt in einer Falle fest, die sich von Tag zu Tag tödlicher erweist, gefangen zwischen Grenzen, zwischen Staaten. Krankheiten, Kriegsverletzungen und Traumata plagen die Menschen. Not und Mangel sind an der Tagesordnung. Immer wieder kommt es zu Gewalt. Die Angst vor Abschiebung, die extreme Situation im Lager und das Erlebte auf der Flucht oder in den Heimatländern fördern das Entstehen von psychischen Erkrankungen und Kriminalität. Immer wieder kommt es zu Bränden, die mehrere Menschenleben forderten. Noch vor wenigen Wochen, nach der Auflösung des Geflüchteten-Pakts zwischen der türkischen Regierung und der EU dominierte die Situation auf Lesbos und an der griechisch-türkischen Grenze die Medienlandschaft. Die Meldungen über die Ausbreitung des Corona-Virus weltweit ließen die Stimmen aus Moria verstummen. Jetzt gibt es erste Fälle im Lager, ein Ausbruch dort wäre katastrophal, ein Virus findet dort idealen Nährboden für eine schnelle und fatale Verbreitung…
Jedes Jahr finden sich zehntausende Chassidische Juden aus aller Welt in der ukrainischen Stadt Uman (ca. 90.000 Einwohner), 210 Kilometer südlich der Hauptstadt Kiew ein, um Rosh Hashanah, das jüdische Neujahrsfest zu feiern. Rosch ha-Schana fällt nach dem jüdischen Kalender auf den 1. Tischri, dem siebten Monat des religiösen jüdischen Kalenders, der nach dem gregorianischen Kalender in den September oder in die erste Oktoberhälfte fällt. Das genaue Datum wechselt von Jahr zu Jahr. Die Pilger finden sich am Grab von Rabbi Nachman ein, dem Enkel des Begründers des Chassidisimus, Baal Shem Tov, der die Bewegung wiederbelebt hat und die mystische, kabbalistische Strömung mit dem Studium der Thora in Einklang brachte. Der Legende zufolge, nach dem sein Haus ein Breslau während eines Brandes zerstört wurde, kam er auf Einladung von Juden aus Uman in die Stadt und verkündete, dass Uman ein guter Platz für eine letzte Ruhestätte sei, da dort die Tausende Juden begraben liegen, die 1768 einem Pogrom zum Opfer fielen. Am letzten Rosh Hashanah seines Lebens soll er seinen Anhängern gesagt haben, dass er sie sich jedes Jahr zu diesem Fest in seiner Nähe wünschte. Nach der Revolution 1917 wagten die Pilgerfahrt nur noch vereinzelte Gläubige. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckte ein Rabbiner aus New York das Grab des Rabbis, die ersten Reisen waren noch illegal, in den letzten Jahren der Existenz der Sowjetunion gab es bereits von Intourist organisierte Reisen. Bereits Gorbatschow erlaubte 1988 200 israelischen Chassidim die Fahrt nach Uman, um dort das jüdische Neujahrsfest zu begehen. Nach dem Kollaps der Sowjetunion entwickelte sich die Stadt zur wichtigsten Pilgerstätte der Chassidim, offizielle Zahlen sind schwer zu bekommen, in diesem Jahr kursierte die Zahl von bis zu 50.000 Pilgern. Uman entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einem bedeutenden jüdischen Zentrum. Vor der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg waren mehr als 60% der Einwohner Juden. Die Nazis deportierten nahezu alle Juden Umans, über 15.000; auch der jüdische Friedhof wurde eingeebnet, man versuchte die Geschichte der Chassidischen Juden auszulöschen. Adolf Hitler und Benito Mussolini besuchten gemeinsam die Front bei Uman, um unter anderem ein italienisches Expeditionskorps zu besuchen. Der Höhepunkt der Feierlichkeiten findet an einem kleinen See in unmittelbarer Nähe der Puschkin-Straße statt, am Abend des zweiten Tages des Neujahrsfestes. Zu Tausenden finden sich die Pilger am Ufer ein, um sich von ihren Sünden zu lösen. Das geht zurück auf die Tradition des Taschlich, wo es heißt „Du sollst werfen“, die symbolische Lossagung von angehäuften Sünden in ein Gewässer während des Neujahrsfestes Rosh Hashanah. So ist es Tradition am Nachmittag des ersten Tags des Neuen Jahres, in diesem Jahr am zweiten Tag, da Rosh Hashanah auf einen Schabet gefallen ist, an einen See oder einen Fluss zu gehen, um sich seiner Sünden zu entledigen. Am ersten Tag ist die Nacht erfüllt von Gesang und Musik. Auf den Plätzen und auf der Straße wird getanzt, in der unmittelbaren Umgebung der zentralen Synagoge, wo sich das Mausoleum des Rabbi befindet wiegen die Gläubigen vor und zurück, rezitieren Passagen aus der Thora, singen, beten geraten in ekstatische Zustände. Es ist ein Fest der Dankbarkeit, man spürt die Erfüllung, was diese Pilgerreise für die Gläubigen bedeutet und sieht das Glück in den Augen der Menschen, die sich auf der Puschkin-Straße drängen. Das gesungene Gebet, der Niggun, war Rabbi Nachman ein wichtiges Anliegen, eine Abfolge der Niggunim entspricht dem Universum selbst, aus der Hingabe ergibt sich ein großes Glücksgefühl und ein direkter Zugang zum Schöpfer selbst. Der größte Andrang herrscht in der Synagoge, die um das Grab des Rabbi errichtet wurde. Dort wird Tag und Nacht gebetet und aus der Thora gelesen. Frauen sind nicht erlaubt auf dem heiligen Grund, es gibt strenge Regeln, auch Sephardische und Aschkenasische Juden beten getrennt. Hotels und Pensionen sind weit im voraus ausgebucht. Viele Einwohner der Stadt vermieten ihre Wohnung an Pilgergruppen und ziehen zu Verwandten. Auch zur Verfügung stehende Hallen werden zu temporären Synagogen umfunktioniert. Ungefähr 2000 Euro lassen sich viele den Aufenthalt über ungefähr fünf Tage in einer Privatwohnung kosten. Für die Stadt Uman ist die Pilgerfahrt inzwischen ein Großereignis, von dem man einige Monate zehren kann. War es früher noch ein Abenteuer, nach Uman zu kommen, übernehmen heute Touristikunternehmen die Logistik und bringen die Pilger vom Flughafen direkt in das heilige Areal.
Die bolivianische Revolution und das Versprechen vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und Hoffnung für viele Menschen, ist am Ende. Weit entfernt von ihrem ursprünglichen Ziel, Wohlstand und Gerechtigkeit vor allem für die Armen zu bringen, stehen die Zeichen auf eine weitere Verschlimmerung der jetzt schon desolaten Lage und eine tiefere Spaltung der Gesellschaft. Das Abdriften in Autoritarismus, die eskalierende Gewalt, Zensur und Gleichschaltung der Medien auf der einen Seite und das gefährliche Spiel mit der Provokation und der Drohkulisse einer ausländischen Intervention, um einen Regimewechsel herbeizuführen auf der anderen Seite haben zu einer Spirale geführt, die immer weiter in Richtung einer unvermeidbaren Konfrontation führt und nicht mehr zu durchbrechen scheint. Die hehren Zielsetzungen, die unter Hugo Chávez ausgegeben wurden, verblassen in der Erinnerung der Menschen. Weitreichende Korruption, eine steigende Zahl von Gewaltdelikten und die Unfähigkeit der Regierung, wirtschaftliche Engpässe zu regulieren, haben das Land geprägt. Aber es sind auch die Sanktionen, vor allem der Vereinigten Staaten, die das Land an den Rand des Abgrunds gebracht haben. Venezuela kann weder auf ausländische Kredite hoffen noch seine Ressourcen auf dem Weltmarkt gegen Devisen veräußern. Die Inflationsrate ist grotesk und weltweit die höchste, Nahrungsmittel sind in Venezuela mehr als genug vorhanden, nur können sie die meisten Menschen einfach nicht bezahlen. Ende Februar 2019 konnte die Regierung die Kraftprobe mit dem selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó noch für sich entscheiden und die Reihen schließen, der Konflikt ist aber nicht beendet. Kann sich Nicolás Maduro halten, wird es zwangsläufig zu einer weiteren Verschärfung seiner repressiven Politik kommen, die Brüche werden noch tiefer, Klientelismus und Militarismus werden weiter wachsen und Venezuela wird international isoliert bleiben. Ein Sieg der Opposition würde wohl einen langen Prozess der Säuberungen und eine Privatisierungswelle mit sich bringen. Venezuela würde seine Auslandsschulden und Rückzahlungen begleichen müssen. Die Sozialprogramme, das Herzstück der bolivarianischen Revolution, würden höchstwahrscheinlich weitgehend zurückgenommen. In beiden Fällen sind es die Menschen, denen es an Nahrung und Medikamenten fehlt, die auf der Strecke bleiben, keine dieser Lösungen hält Hoffnung auf eine bessere Zukunft bereit.
Die kaum bekannte autonome Republik am Nordufer des Schwarzen Meeres sieht sich als unabhängig von Georgien, von dem es sich in einem grausam geführten Krieg in den Jahren 1992 von 1993 abspaltete und der in ethnischen Säuberungen endete. Russland tritt als Schutzmacht auf, die Narben des Bürgerkriegs sind heute noch sichtbar und spürbar, die Gesellschaft ist schwer traumatisiert. In Ochamchira, im Westen des Landes, unweit der immer noch unsicheren Grenzprovinz Gali, hat sich Vater Sergej mit seinen Exorzismusritualen einen Namen gemacht, der inzwischen auch weit über die Grenzen des kleinen Landes hinaus bekannt ist. Auf dem Kirchengrundstück haben zahlreiche Menschen Zuflucht gefunden, die unter psychischen Krankheiten leiden und Zeichen von „Besessenheit“ aufweisen. Ethnische Spannungen, zerrissene Familien, Isolation, Perspektivlosigkeit sind die alltägliche Realität eines der sogenannten „eingefrorenen Konflikte“ an der Peripherie des ehemaligen Sowjetreiches, wo Russland seine geopolitischen Ambitionen durchsetzen will.
Lokalexpertise und Kontaktvermittlung: Annika Gläser
Am meisten vermisse sie ihre Kinder, sagt die junge Frau im Tuberkulose-Krankenhaus in Balti. Sie wird hier seit über einem Jahr behandelt, multiresistente Tuberkulose. Noch ist kein Behandlungserfolg sichtbar, deshalb darf sie ihre Kinder bei den seltenen Besuchen auch nicht in den Arm nehmen. In einem anderen Flügel des Krankenhauses von Balti, ungefähr 150 km nördlich der Hauptstadt Chisinau gelegen, befindet sich die MDR-Station. Dort liegen die Fälle, die eine extreme Multiresistenz entwickelt haben, meist zu mehreren auf karg eingerichteten Zimmern. Hatte man vor seiner Einweisung keine multiresistente Tuberkulose, bekommt man sie hier von anderen Patienten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden mit den neuen Staaten auch neue Grenzen. Und diese verhinderten die Verteilung von Tuberkulose-Medikamenten, sodass an vielen Orten nicht alle notwendigen Medikamente vorlagen. Die Ärztenahmen die vorhandenen und behandelten weiter. Diese Art der Behandlung war unzureichend und es entstanden Resistenzen gegen verschiedenste Medikamente. Durch mangelhafte Diagnostik war in der Folgezeit unklar, gegen welche Medikamente die Resistenzen entstanden waren, sodass weitere herausgezüchtet wurden, so stieg der Anteil sogenannter multiresistenter Erreger immer weiter. Die betroffenen Patienten mussten mit den sehr viel schlechteren (und sehr viel teureren) Medikamenten der zweiten Linie behandelt werden, und auch gegen diese entwickelten sich sehr bald Resistenzen. Auch und besonders in den Gefängnissen leiden die Insassen in vielen Fällen an Tuberkulose. In den Zellen sind meistens mehrere Gefangene gleichzeitig eingesperrt, und wenn einer zu husten anfängt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die anderen ebenfalls anfangen.Das Elend und die fatalen Auswirkungen der Tuberkulose auf sämtliche Lebensbereiche der Betroffenen und ihrer Familien verschwinden oft hintere den epidemiologischen Zahlen und länderbezogenen Untersuchungen, wie zum Beispiel im Fall der 21-Jährigen Patientin Tatjana, die nach einer falschen Diagnose einen massiven TB-Ausbruch in Zusammenhang mit einer Nicht auskurierten Meningitis erlitt und nur 48 Stunden nach ihrer Noteinlieferung in das Zentralkrankenhaus in Chisinau verstarb. Sie hinterlässt eine einjährige Tochter, die jetzt von ihrer jüngeren Schwester aufgezogen werden muss. Ihre Familie, die sie manchmal mit etwas Geld für Essen unterstützte, lebt in bitterster Armut in einem kleinen Dorf in der Nähe der Grenze zwischen Moldawien und Rumänien. Ein Schicksal unter vielen...
In Bangladesch ergießen sich die großen Ströme Ganges, Brahmaputra und Meghna in den Golf von Bengalen. Auf ihrem Weg verzweigen sie sich in Abertausende Flussarme und bilden riesige Lagunen, darum erstrecken sich die größten Mangrovenwälder der Welt. Die Menschen in Bangladesch nennen sie Sundarbans, die „schönen Wälder“, eine entrückte, unzugängliche und schwer zu fassende Welte, zwischen Meer, Brackwasser und Inseln, gewachsen und geformt über Jahrtausende, im ständigen Wechsel von Ebbe und Flut, tropischen Stürmen und Zyklonen. In Ausdehnung und Artenreichtum ist es ein so einzigartiger Lebensraum, dass ihn die UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt hat. Aber wie lange kann das jetzt schon fragile Gleichgewicht noch erhalten bleiben. Illegale Rodung weiter Waldflächen, die Versalzung der Böden durch die riesigen Aquakulturen der Garnelenfarmer, Umweltverschmutzung, Stürme und der ständig steigende Meeresspiegel machen das Überleben der Menschen immer schwieriger…
Nachdem die Donau auf über 2800 km sechs Länder hinter sich gelassen hat, entleert sie sich in das Schwarze Meer, in einer einzigartigen und unzugänglichen Landschaft, in Rumänien und im südlichsten Zipfel der Ukraine, am Ende Europas. Das Donaudelta ist eine Welt der Armut, der Rückständigkeit und voller Abschiede, geprägt von extremen Gegensätzen; aber auch eine magische Welt, eine Traumwelt, unstet, flirrend, nicht zu greifen oder zu begreifen.
Viele Menschen verlassen in diesen Zeiten das für sie immer lebensfeindlichere Delta, eine isolierte, abgelegene Gegend, aus der Zeit gefallen und gefühlte Lichtjahre von der rumänischen Hauptstadt entfernt. Diejenigen, die das Delta verließen und zurückgekehrt sind und die, die bleiben, sind keineswegs unempfänglich für die fast irreale Schönheit des Deltas, ein Lebensraum, der sich ständig verändert und für seine Bewohner zu allen Zeiten harte Prüfungen bereit hält.
Hoffnung und Gleichmut, stilles Leiden ohne schuldzuweisende Klage. Im frankophonen Westafrika gibt es den beliebten Gruß "Comment ça-va avec le douleur?" - "Wie geht es mit dem Schmerz?" Diese Einstellung habe auch ich in den von Dr. Gordon Jones in den 1970er Jahren gegründeten Missionskrankenhäusern in Luampa und Elim (Zambia) kennengelernt. Missionare, Klinikpersonal und einheimische Bevölkerung formten sich dort zu einer neuen Gesellschaft, von der ein Teil an jahrzehntelang erprobten Tradition festzuhalten versuchte, während die Innovation der Neuankömmlinge, die das Dorfleben nachhaltig verändern sollten, auch dankbar angenommen wurden. Eine Kehrseite des christlichen Missionseifers bleibt dabei, dass diese unreife Symbiose zwischen gewachsenen Sozialstrukturen und westlicher Zivilisation problematische, mitunter groteske Resultate hervorbrachte – Kulturchauvinismus und Fundamentalismus. Ohne die unschätzbaren Leistungen der Seelsorger würden aber die dort behandelten Krankheiten fast immer den sicheren Tod bedeuten, während sie mit Medikamenten leicht zu heilen sind. Das größte Problem, die hohe Rate an HIV-infizierten Patienten, bleibt jedoch ein Tabu-Thema, da die Krankheit in den Augen der Missionare immer noch als eine "Strafe Gottes" angesehen wird.
Der Krieg zehrt an den Menschen in den ostukrainischen Kriegsgebieten. Tausende sind auf der Flucht. Viele leben zusammengedrängt in einigen Waggons der ukrainischen Eisenbahn auf dem Bahnhof von Slowjansk, ohne Licht, ohne Wasser, ohne Geld, viele haben Hunger, viele leiden an Krankheiten. Die Kämpfe zwischen den prorussischen Rebellen und der ukrainischen Armee wurden seit Herbst 2014 immer erbitterter geführt, die Städte, die jetzt innerhalb der befriedeten, von der ukrainischenArmee kontrollierten Zone liegen, sind mit den täglich ankommenden Flüchtlingen aus den umkämpften Gebieten schlichtweg überfordert.
Vom Friedensabkommen in Minsk und der vereinbarten, für die nächsten Tage angekündigten Waffenruhe erwarten die Menschen wenig oder gar nichts. Ihre Häuser und Wohnungen sind zerstört, viele Familien sind zerrissen, sie stehen vor dem Nichts.
Tejgaon Slum Area in Dhaka. Bangladeschs Hauptstadt wächst, die Bewohner werden immer weiter an den Rand gedrängt, auch die Ärmsten, die in den Slums entlang der Eisenbahnschienen noch in zentralen Lagen leben. Dhaka wird, einer Studie zufolge, immer arm bleiben, auch wenn hier, wo Menschen in behelfsmäßig zusammengezimmerten Hütten in Schlamm, Müll und Fäkalien leben müssen, zukünftig Wohnungen für die aufstrebende Mittelschicht gebaut werden sollen. Der Kollaps wird nicht anwendbar sein, sollte die Entwicklung so anhalten. Rikschafahrer, Tagelöhner, Straßenhändler, ohne festen Wohnsitz, immer bereit, den provisorischen Wohnsitz zu verlassen, zu weichen. Das Elend ist abstoßend und beschämend, die Lebensbedingungen mehr als unwürdig. Trotzdem, fast unvorstellbar, gibt es auch hier, abseits des täglichen Überlebenskampfes viel Freude, Liebe, Farben, spielende Kinder und Zusammenhalt…
Erhabene Landschaften, Stimmungen, Augenblicke… Eine kleine Auswahl von Bildern aus den Ostalpen, entstanden während verschiedener Reisen und Auftragsarbeiten, im Salzburger Land, Tirol, Südtirol, Osttirol, Kärnten und Slowenien.
„Der Reigen der nackten Körper unter dem roten Himmel, und all diese sich bewegenden Schatten… als wären wir einer längst vergangenen Zeit, einem wilden Märchen entsprungen. Ist die elegante Gestalt in der Mitte der Stammeshäuptling? Nur seine Uniform wirkt deplatziert. Sie verfälscht das Bild. Mit einer sich ständig wiederholenden Bewegung des Daumens winkt er jede Minute einen Körper aus dem Reigen heraus. Sein Finger bewegt sich rhythmisch, und im selben Takt schrumpft der Reigen. Wir drehen uns immer schneller… und werden immer weniger. Wozu?
aus: Ana Novac, Die schönen Tage meiner Jugend