Lviv, Lemberg, Lwow... Viele Identitäten, viele schmerzhafte Erfahrungen haben die westukrainische Stadt geprägt und überall ihre Spuren hinterlassen. Die Erinnerung an die Zeit, als man sich der Habsburgermonarchie zugehörig fühlte, ist nicht vollständig ausgelöscht, danach kamen die Polen, dann die Deutschen, die mit ihren ukrainischen Helfern das jüdische Lviv vernichteten. Darauf folgte eine lange Zeit im Dämmerschlaf an der Peripherie des sowjetischen Archipels. Der größte Teil des letzten Jahrhunderts bestand für die Bevölkerung Lvivs aus Krieg, Vertreibung, Pogromen, Säuberungen und der Ödnis der realsozialistischen Wohnsilos und Trabantenstädte, die hier entstanden, um den Lebensraum für den neuen kommunistischen Menschen zu organisieren. Jetzt, aus der postsozialistischen Lethargie erwacht, wurde Lviv erneut Speerspitze der Oppositionsbewegung, in diesem Fall gegen die Regierung Yanukowitsch, und besinnt sich auf seine Rolle als geistiges und kulturelles Zentrum ukrainischer Kultur und Nation. Aber die selbstgesteckte Marschroute, der Weg nach Europa ist noch lang, aller orten spürt man die Last der vergangenen Zeitschichten. Im Morgengrauen auf dem Busbahnhof, kommen die ersten Kleinhändler aus den Dörfern, verschlafen taumeln sie in den kalten, grauen Wintermorgen, schwer beladen mit eingemachtem Gemüse, einem Sack Kartoffeln, Äpfeln oder Stapeln mit Eierkartons. Alte Trambahnen und marode Ladas rattern über das aufgeworfene Kopfsteinpflaster, alte Frauen kehren stoisch die Gehsteige mit Strohbesen. Der Portier im Hotel Lviv sitzt 24 Stunden in einer dunkelgrauen Marmorhölle und starrt in einen kleinen Fernseher, im Restaurant sitzt ein alter Mann und bewegt die Lippen stumm zu den Liedern des Sängers, der nur für ihn singt. Drei Kellner starren in die Leere des mit schweren, staubigen Samtvorhängen abgedunkelten Speisesaals. Auf dem Markt wird die Ware vor dem Kauf begutachtet und gekostet, nur grelle Stirnbänder und Daunenjacken, die die Verkäuferinnen vor der bitteren Kälte schützen, passen nicht in dieses Tableau einer vergangenen Zeit. Die unvermeidliche Amerikanisierung unterbricht die Stille in einer der Kleinen Gassen hintere der alten armenischen Kathedrale in Form einer Hochzeitsgesellschaft, die eine Verfolgungsjagd aus der Zeit Al Capones mit originalgetreuen Utensilien nachspielt. Es ist Samstag Nachmittag, die Verliebten spazieren Hand in Hand auf den Aussichtsberg, der die Stadt überblickt und fotografieren sich dort in Fotomodell-Posen, die alten Frauen sind auf dem Weg zur Abendandacht in den Kirchen der Altstadt und die letzten Reisenden, die den ganzen Tag auf der Suche nach dem verschwundenen jüdischen Lemberg waren, ziehen sich in ihre Hotels zurück. Die Straßen der Stadt mit den habsburgischen Fassaden leeren sich, nur im Zentrum harren in diesen Tagen im Februar 2014 kleine Gruppen vor den fotokopierten Portraits der Toten des Maidan aus und wärmen sich an den schüchtern züngelnden Flammen von vielen hundert Friedhofskerzen.