Sie waren die militante Speerspitze der Proteste gegen die ukrainische Regierung. Jetzt mischen die Kämpfer des gefürchteten „Rechten Sektors“ auch in der Politik mit. Im Keller des Hauptpostamts von Kiew hängt immer noch der Geruch der Revolution in der Luft: verbrannte Reifen, ungewaschene Kleidung, muffige Matratzen. Zwischen Gasmasken, Tarnanzügen und Molotowcocktails schlafen ein paar Leute auf dem Boden. Die Scheibe zum Stiegenhaus ist zersplittert – schwer zu sagen, ob von der Wucht eines Aufpralls oder einem Schuss. Zusammengehalten wird sie nur noch von einem Klebeband und einem Sticker, rot-schwarz mit weißen Lettern: „Prawy Sektor“. Wenige Meter vom Kiewer Maidan entfernt, organisierte sich im vergangenen Winter der rechtsradikale Flügel der Proteste gegen Präsident Viktor Janukowitsch, um Revolution zu machen – nicht friedlich, sondern mit Waffen. Wie groß der Anteil des „Rechten Sektors“ am blutigen Umsturz in den Februartagen wirklich war, ist bis heute umstritten. Inzwischen aber kennt die Organisation jeder – von Lemberg bis Luhansk, von Moskau bis Wladiwostok steht der Name für Gewalt, Respekt, Angst.
Bekele, der wie sein Name sagt "groß geworden" ist, ist bereits tagelang unterwegs, als ich ihn mitnehme und seinen schmerzenden Füßen den restlichen Weg erspare, indem ich ihm einen Platz im Auto anbiete. Seine Pilgerfahrt führt ihn zu den Felsenkirchen nach Lalibela, dem religiösen Zentrum des christlichen Äthiopiens. Eine Rückkehr hat der Waise Bekele nicht vor, er wurde als unerwünschter Esser weggeschickt und läuft seit Tagen barfuß Richtung Lalibela, in der Hoffnung, dort das Priesterseminar besuchen zu dürfen.
Ursprünglich war ein ganz anderes Fotoprojekt geplant.
Während einer Rundreise durch Rumänien, Albanien, Ungarn und den Kosovo sollten Aufnahmen für das Projekt "altes Europa - neue Grenzen" entstehen. Mitrovica/Mitrovicë übte als geteilte Stadt eine unglaublich starke Faszination und Anziehungskraft auf mich aus: ein Fluss, der die Stadt unterteilt in den albanischen und serbischen Sektor, Militär auf den Straßen und schließlich die Notiz über ein Roma-Auffangslager im Norden der Stadt.
Durch Zufall kam ich nach langen Gesprächen in Cafés und Bars in Kontakt mit Hiljmnijeta. Apuks Hilfsorganisation "Little People of Kosovo", die mir den Zutritt zu den Lagern Mitrovica und Cesmin Luc ermöglichen sollte. Gleich zu Anfang habe ich Ershan getroffen, einen kleinen Jungen, der für meinen Aufenthalt im Auffanglager mein "Fremdenführer" wurde, mich seiner Famile und seinen Freunden vorstellte und mich in jeden Winkel der Lagers schleifte. In gebrochenem Englisch und mehr mit Händen und Füßen erzählte er mir die tragischen Familiengeschichten: Wie Linditas kleienr Sohn Besmir durch die fortgeschrittene Bleivergiftung schleichend verrückt wurde und eines Tages im Fluss ertrank, weil er einen Fisch fangen wollte, der im Licht glitzerte. Dass sein Freund nun schon seit Tagen nicht mehr zum spielen käme, ja nicht einmal mehr sein Bett verlassen würde, weil die Krankheit ihn so ermüde. Dass er und seine Familie sich oft tagelang nur von billigen, überzuckerten Limonaden ernähren: das Trinkwasser ist verseucht, das Wasser im Fluss noch viel mehr und für Lebensmittel fehlt viel zu oft das Geld. Die Limonade hilft da wenigstens ein bisschen vor der totalen Unterzuckerung und Ershans Mutter kann sich sicher sein, dass sie der Gesundheit ihrer Kinder nicht dem Maße schadet wie das Wasser, das im Lager aus den wenigen Leitungen fließt.
Wenn im Jahreszyklus religiöser und volkstümlicher Feiertage in Spanien die orgiastische Fiesta und das stille Ritual einander bedingen und ablösen, werden spanische Städte und Dörfer zu lebenden Spiegelbildern der barocken Sentenzen des carpe diem und memento mori. Die scheinbar unvereinbaren Gegensätze einer spirituellen Suche nach Lebenssinn und der individualistischen Freiheitssehnsucht der jüngeren abendländischen Philosophie, werden hier ganz selbstverständlich im selben Atemzug gelebt.
25 Jahre sind vergangen, seit die Regierung Pol Pots das Gymnasium Tuol Svay Prey in Tuol Sleng in eines der grausamsten Foltergefängnisse der Welt, S-21, verwandelt hatte um dort im Laufe der Jahre 2,2 Millionen Menschen zu foltern und hinzurichten. Genau 25 Jahre später, wurde das "Rote-Khmer-Tribunal" eingerichtet, das über die Verbrechen der Roten Khmer richten sollte. Heute erinnern das im Verfall begriffene Tuol-Sleng-Museum und die Killing Fields in Choeung Ek als geschichtsträchtige, blutgetränkte Orte in einer kargen Ästhetik der Banalität des Bösen an die Verbrechen Pol Pots.
"Bitte, laufen Sie nicht über die Massengräber", mahnt ein Schild auf einer scheinbar doch so idyllischen Wiese under dem "Magic Tree".
"Ich war in einer psychiatrischen Klinik in Rumänien. Nicht als Insasse, aber beinahe wäre ich selbst einer geworden", schrieb ich, als ich vor 12 Jahren die Anstalt Gavodnija in Jebel besuchte um an der Seite der rumänischen Journalistin Claudia Popa eine Reportage für Renesterea Banateana zu fotografieren. Nach 15 Minuten in dieser Anstalt am Ende der Welt wie wir sie kennen, außerhalb jeglichen Bewusstseins, wo über 600 Insassen ohne therapeutische Kriterien oder Betreuung und selbst ohne Medikamente zusammenleben steht nur tiefe Hoffnungslosigkeit über diese Anstalt. Die humanitäre Hilfe ist dort ein längst lange versiegter Quell, ebenso wie die Hoffnung.
Die Grenzlage und die vergleichsweise kurze Strecke zwischen Afrika und Europa machen die Meerenge von Gibraltar zur großen Hoffnung vieler Flüchtiger, zum "Tor nach Europa" - und im Lauf der Jahrzehnte zu einem der größten Massengräber Europas, wenn die Hoffnung unzähliger Flüchtlinge jäh endet. Dieser Ort zwischen den Orten ist ein Sammelbecken und Schmelztiegel nicht nur für Gestrandete. In ihm spiegeln sich das Geben und Nehmen des Meeres; die Armut der Flüchtlinge, die für eine Plastikplane über Kopf in Almería auf den Plantagen der Großgrundbesitzer arbeiten; das Unglück der Vielen und das Glück der einzelnen Wenigen; hier versammeln sich diejenigen, die ihr neues Leben Schleusern zu verdanken haben und sich die heil überstandene Überfahrt duch Drogendeals und Prostitution abstottern müssen - und alle sind sie über das Meer gekommen.
Lviv, Lemberg, Lwow... Viele Identitäten, viele schmerzhafte Erfahrungen haben die westukrainische Stadt geprägt und überall ihre Spuren hinterlassen. Die Erinnerung an die Zeit, als man sich der Habsburgermonarchie zugehörig fühlte, ist nicht vollständig ausgelöscht, danach kamen die Polen, dann die Deutschen, die mit ihren ukrainischen Helfern das jüdische Lviv vernichteten. Darauf folgte eine lange Zeit im Dämmerschlaf an der Peripherie des sowjetischen Archipels. Der größte Teil des letzten Jahrhunderts bestand für die Bevölkerung Lvivs aus Krieg, Vertreibung, Pogromen, Säuberungen und der Ödnis der realsozialistischen Wohnsilos und Trabantenstädte, die hier entstanden, um den Lebensraum für den neuen kommunistischen Menschen zu organisieren. Jetzt, aus der postsozialistischen Lethargie erwacht, wurde Lviv erneut Speerspitze der Oppositionsbewegung, in diesem Fall gegen die Regierung Yanukowitsch, und besinnt sich auf seine Rolle als geistiges und kulturelles Zentrum ukrainischer Kultur und Nation. Aber die selbstgesteckte Marschroute, der Weg nach Europa ist noch lang, aller orten spürt man die Last der vergangenen Zeitschichten. Im Morgengrauen auf dem Busbahnhof, kommen die ersten Kleinhändler aus den Dörfern, verschlafen taumeln sie in den kalten, grauen Wintermorgen, schwer beladen mit eingemachtem Gemüse, einem Sack Kartoffeln, Äpfeln oder Stapeln mit Eierkartons. Alte Trambahnen und marode Ladas rattern über das aufgeworfene Kopfsteinpflaster, alte Frauen kehren stoisch die Gehsteige mit Strohbesen. Der Portier im Hotel Lviv sitzt 24 Stunden in einer dunkelgrauen Marmorhölle und starrt in einen kleinen Fernseher, im Restaurant sitzt ein alter Mann und bewegt die Lippen stumm zu den Liedern des Sängers, der nur für ihn singt. Drei Kellner starren in die Leere des mit schweren, staubigen Samtvorhängen abgedunkelten Speisesaals. Auf dem Markt wird die Ware vor dem Kauf begutachtet und gekostet, nur grelle Stirnbänder und Daunenjacken, die die Verkäuferinnen vor der bitteren Kälte schützen, passen nicht in dieses Tableau einer vergangenen Zeit. Die unvermeidliche Amerikanisierung unterbricht die Stille in einer der Kleinen Gassen hintere der alten armenischen Kathedrale in Form einer Hochzeitsgesellschaft, die eine Verfolgungsjagd aus der Zeit Al Capones mit originalgetreuen Utensilien nachspielt. Es ist Samstag Nachmittag, die Verliebten spazieren Hand in Hand auf den Aussichtsberg, der die Stadt überblickt und fotografieren sich dort in Fotomodell-Posen, die alten Frauen sind auf dem Weg zur Abendandacht in den Kirchen der Altstadt und die letzten Reisenden, die den ganzen Tag auf der Suche nach dem verschwundenen jüdischen Lemberg waren, ziehen sich in ihre Hotels zurück. Die Straßen der Stadt mit den habsburgischen Fassaden leeren sich, nur im Zentrum harren in diesen Tagen im Februar 2014 kleine Gruppen vor den fotokopierten Portraits der Toten des Maidan aus und wärmen sich an den schüchtern züngelnden Flammen von vielen hundert Friedhofskerzen.
Schiachperchten, Schnabelperchten, Toifi, Krampusse, Einspeiber, Kehrhaus, Habergoaß, Hanswursten, Tristerer und Larven, Bocks- und Ziegenhörner, klirrende Ketten, ohrenbetäubende Schellen und Glocken, kalte Nächte, kehlige Schreie, Dämonenaustreiber – Winterbrauchtum der Raushängte und der Wintersonnenwende in Rauris und Bad Gestein, Salzburger Land, Österreich.
Die griechisch-albanische Grenze: eine EU-Außengrenze und ein Streifen Niemandsland, der ebenso trennt wie verbindet. Ein Ort an dem die Geschichten der Vergangenheit mitschwingen: der Grenzzaun und die Bunker eines paranoiden kommunistischen Regimes, die ausgehungerten Emigranten, die Anfang der 1990er Jahre der postkommunistischen Anarchie über die Gramoz-Berge entflohen. Heute verlaufen die Grenzen jenseits der Geographie: zwischen den verbliebenen Eltern und ihren emigrierten Kindern, zwischen den Gewinnern und Verlierern der griechischen Wirtschaftskrise. Seit der Liberalisierung der Visa für albanische Staatsbürger 2010 hat die Grenze ein neues Gesicht: albanische Schafe werden in Lastwagen nach Griechenland verkauft, albanische Musiker verdienen ihr Geld auf griechischen Hochzeiten und dann gibt es da noch die Rückkehrer, für die es weder im wirtschaftlich schwachen Albanien, noch im krisengeschüttelten Griechenland eine realistische Perspektive gibt.
Text: Eckehard Pistrick
"Das hier ist Privatbesitz, mein Privatbesitz." "Wir wollen zu Alois Beyer." Er wohnt hier, einem Anwesen in der Nähe von Miesbach, Oberbayern. Dieses Anwesen gehört ihm. "Beyer? Nein, den kenne ich nicht." "Er wohnte hier, früher, in seinem Bauernhof. Forellengraben 73 in Neutitschein, Mähren." Zweimal die Bilder seiner Heimat, eines Vertriebenen, eines der vielen Vertriebenen. 850 Kilometer voneinander entfernt. Sind die Bilder nun die Aufnahmen der Landschaften und der Häuser, sind es die Vorstellungen, die verbliebenen Bilder im Kopf? Und spielt es eine Rolle, dass der Forellengraben heute Ulitsa Pstruzino potoka heißt und Neutitschein Novy Jicin? Spielt es eine Rolle, dass man den alten Mann Alois Beyer in eine vermüllte Ecke seines Hofes gedrängt hat?